Gezeichnet fürs Leben

24. Mai 2020 - Der Luxus des Alters besteht darin, Eitelkeiten aufzugeben und sich nicht mehr darum zu kümmern,

was andere von einem denken.Ich trage zum Beispiel nun auch in der Öffentlichkeit Brillen gegen meine Weitsichtigkeit, zeige mich immer noch im Bikini, obwohl mein Bauch längst nicht mehr flach ist und vor kurzem habe ich mich sogar tätowieren lassen. Ich habe nämlich beschlossen in Zeiten wie diesen, nur noch das zu machen, worauf ich Lust habe. Was auch immer das sein wird.

Bevor europäische Seefahrer die abgelegenen Inseln des Südpazifiks in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erreichten, hatten Tätowierungen eine wichtige Bedeutung in der polynesischen Gesellschaft. Ohne diesen Hautschmuck auf Körper und im Gesicht fanden weder Frauen noch Männer einen Partner. Die geheimnisvollen Symbole verrieten die Herkunft und den sozialen Status. Jede Linie, jeder Kreis, jeder Punkt hatten eine Bedeutung. Während viele Europäer zu Kapitän Cooks Zeiten die Tätowierungen als „Schrift des Paradieses“ verstanden, machten die christlichen Missionare der „gotteslästerlichen Erhebung des sündigen Körpers“ schnell ein Ende. Ebenso missfielen den Heilsverkündern die traditionellen Skulpturen, Tänze und Gesänge. Bereits im 19. Jahrhundert hatten sie den Großteil der alten Kulturen im Südpazifik ausgelöscht.

Zum Glück bereiste der deutsche Ethnologe Karl von den Steinen 1897 die Marquesas, skizzierte die „tatauierten“ Bewohner und hielt die Namen der Muster und Ornamente fest. Während seines sechs Monate langen Aufenthalts dokumentierte er die letzten Meisterwerke einer sterbenden Kultur für die Nachwelt. Sein Werk „Die Marquesaner und ihre Kunst“ avancierte zu einem Klassiker anthropologischer Literatur und liegt heute in vielen Tatoo-Studios Polynesiens. „Von Steinens Buch ist unsere Bibel“, sagt Kaha. „Ohne seine Aufzeichnungen wäre alles verloren.“ Der junge Tätowierer blättert regelmäßig in dem reich illustrierten Buch und macht uns auf viele traditionelle Motive aufmerksam. Kaha, 30 Jahre, groß, kräftig, mit Ringen in den Ohrläppchen und vielen kunstvollen Tatoos an Armen und Beinen ist unser Tätowierer in Atuona. Nach all der Zeit, die wir hier während der Covid-19-Quarantäne verbrachten, war für uns beide klar: Wenn ein Tatoo, dann hier.

Früher wurden die nadelspitzen Tataustichel aus Schildplatt, Vogelknochen, Tierzähnen oder Rochenstacheln gefertigt und die Tinte aus Asche und Wasser unter die Haut getrieben. Heute hat aus Gründen der Hygiene die Nadel weitgehend die Instrumente der alten Tätowierer ersetzt, und die Tinte bezieht Kaha aus den USA. Die kulturelle Lähmung durch die Missionare scheint überwunden, und die Menschen besinnen sich wieder ihrer alten Traditionen, aus denen sie Kraft und Inspiration schöpfen. Eine kulturelle Renaissance durchweht ganz Französisch Polynesien.

Ziemlich aufgeregt betreten wir Kahas Studio. Wir wissen beide nicht, was uns erwartet. Wolfi ist wie immer der Tapfere und kommt als Erster dran. Er hat sich für einen Mantarochen entschieden, und zwar am linken Oberarm. In den Körper des Tieres stichelt Kaha traditionelle Symbole. Blues klingt aus Lautsprechern, die Lieblingsmusik von meinem Kapitän. Nach einer guten Stunde bin ich an der Reihe. Bäuchlings am Behandlungstisch liegend frage ich mich insgeheim, was ich hier eigentlich mache. Irgendwann höre ich Kaha sagen: „Okay, I start now!“ Ich halte die Luft an, warte auf den Schmerz, neben meinem rechten Ohr surrt die Tätowiernadel. Und? Tja wie soll ich es beschreiben, dieses Pieksen? Es spürt sich ein bisschen wie epilieren an oder wie Augenbrauen zupfen. Nur intensiver, stärker. Nach knapp 40 Minuten hat Kaha sein Kunstwerk beendet, und ein Delphin ziert meine rechte Schulter. Seit unserem ersten Besuch 1995 fasziniert uns die Südsee, sie hat uns eigentlich nie mehr ganz los gelassen. Zum dritten Mal in unserem Seglerleben dürfen wir die spektakulären Marquesas Inseln bereisen. Und so sehe ich das Tatau (der polynesische Begriff für Tätowierung) als Zeichen unserer Hingabe für diesen paradiesischen Flecken Erde. Jetzt tragen wir die Marquesas unter der Haut! Was für ein Gefühl! Wäre ich ein Emoji, hätte ich jetzt Herzchenaugen.