Reale Gegenwart

5. April 2020 - Irgendwie geht es weiter, von Tag zu Tag. Vor kurzem ist die „Milanto“, eine blaue Swan von hier losgefahren.

Das Boot, Teilnehmer der World ARC (Ralley um die Welt), erhielt die Genehmigung, nach Tahiti zu segeln.

Die Crew stach mit einer Fröhlichkeit in See, die keine Gegenwart, nur Vergangenheit und Zukunft zu kennen schien. Die drei Italiener glauben fest daran, dass sie ihre Reise nach Westen bald fortsetzen können. Glückliche Unwissenheit oder Naivität?

Auch die mintfarbene „Pazzo“ hat uns verlassen. Die Amerikaner Willy und Cindy wollen rauf nach Hawaii, das Boot dort an Land stellen, heimfliegen und abwarten, wie sich die Corona Krise weiter entwickelt. Willy hat Herzprobleme und will das Risiko nicht eingehen, hier auf dieser abgelegenen Insel seine Medikamente vielleicht für längere Zeit nicht zu erhalten. „Pazzo“ dreht zum Abschied eine Ehrenrunde durchs Ankerfeld. Wolf und ich stehen wie die meisten anderen Yachties am Bug, tröten mit dem Nebelhorn und winken. Mir kullern Tränen über die Wangen. Die Freiheit, die Selbstverständlichkeit, einfach lossegeln zu können, ist mit dem Corona Virus verschwunden. „It was a hard decision to leave Atuona“, sagt Willy gerührt am UKW Radio, man hört, dass es ihm die Kehle zuschnürt.

Dafür ist Uldis mit seiner „Single Malt“, einer 30 Fuß kleinen Yacht angekommen, 70 Tage brauchte er von Panama nach Hiva Oa und darf jetzt natürlich auch nicht an Land. Jeden Morgen beim Aufwachen wünsche ich mir, dass dieser Virus nie ausgebrochen wäre. Keiner kann die Tragweite dessen erkennen, was noch vor uns liegt. Weltweit verzichten Menschen auf ihr gewohntes Leben, auf Normalität. Kurse fallen, Fabriken schließen, Touristen bleiben aus, Unsicherheit überall. Eine „gute Lösung“ gibt es nicht, außer man redet sich was ein. Wie schwer wiegt das, was auf der anderen Seite der Waagschale liegt? Sollen wir alles dem Zufall oder der Zeit überlassen? Uns ist die Welt, die hinter dem Horizont wartet, vollkommen entglitten. Aber vielleicht sind wir auch komplett neben der Spur auf unserem Boot, in unserer Inselwelt. Thema Nummer eins unter den Yachten: Wird in absehbarer Zeit das Segelverbot in Französisch Polynesien aufgehoben werden? In melancholischen Phasen kann ich mir das nicht vorstellen, in zuversichtlichen Phasen glaube ich fest daran.

Der Tag, der so zerquält und verregnet begonnen hat, zeigt sich nun in den verheißungsvollsten Farben. Wolf schenkt mir ein wehmütiges Lächeln, ich schmunzle scheu zurück. Ich fühle mich müde und zerschlagen. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir hier Zeit totschlagen. Ständig stelle ich mir unmöglich zu beantwortende Fragen. Warum sind wir ausgerechnet hier, im unattraktiven, nicht wirklich sicheren Hafen von Atuona? Wann hat es begonnen schief zu laufen? Wo haben wir uns getäuscht? Hätten wir lieber, sollten wir besser, … Der Realität ins Auge zu sehen, ist schwierig, genauso wie immer die Wahrheit zu sagen oder Fehler einzugestehen. Was uns hier zustößt, ist das Leben. Auch wenn es manchmal nicht ganz so einfach ist und sich eine Spur fragiler anspürt. Und es gilt ein weiteres Gesetz: Nicht aufgeben! Niemals den Kopf in den Sand stecken! Hoffen, durchhalten. Und immer schön den Mut bewahren.

Insel Hiva Oa, Atuona, 16. Tag in Quarantäne