Die Kehrseite der Medaille

16. Jänner 2020 - Kalifornien ist für Amerika, was Amerika von jeher für die Welt war: ein Land der Träume, ein Ort der Sehnsucht.

Aber auch ein Sammelbecken der Heimatlosen, ein Exil für die Gescheiterten und für alle, die sich eine zweite Chance wünschen, oder eine dritte, oder eine vierte. In San Diego hat die Zahl der Obdachlosen in den letzten Jahren dramatische Ausmaße angenommen, genauso wie in allen anderen Metropolen an der Westküste der USA. Mittlerweile leben hier Tausende auf der Straße oder in ihren Autos. Für die meisten Betroffenen ist eine feste Bleibe wegen der exorbitant hohen Mietpreise schlicht unbezahlbar geworden. Wer kein Dach mehr über den Kopf hat, versucht sein Glück im sonnigen Kalifornien, sicher nicht in Alaska.

Wir sind privilegiert. Wir haben in Österreich eine kleine Wohnung, segeln mit unserer 32 Jahre alten Nomad, wenn auch mit kleinem Budget, in der Welt herum und können uns leisten, ein paar Tage am Public Dock von San Diego anzulegen. Pro Nacht zahlen wir 43 Dollar, ein Schnäppchen in Südkalifornien. Wir gehören zu den wenigen, die mit eigener Motorkraft anlegen, die meisten Boote werden hier mit dem Dingi zum Liegeplatz geschleppt. An den Stegen ein unglaubliches Sammelsurium an vergammelten Yachten. „Welcome to San Diego“, ruft ein sonnengegerbter, völlig bekiffter Alt-Hippie. Wir sind in der Gang der „beinahe Obdachlosen“ gelandet. Sie gelten als die Oberschicht der Entwurzelten, besitzen uralte Wracks, die sie meist um wenige Dollar erstanden haben. Ihre Boote sind längst nicht mehr seetauglich, die Decks voll geramscht mit Zeug, die Segel verschimmelt und löchrig, die Motoren defekt. Aber sie sind ihr Zuhause, ihre letzte Zuflucht vor dem totalen Abstieg, vor dem Leben auf der Straße.

Um zu verhindern, dass diese Boote in einer Ecke der weitläufigen Bucht von San Diego komplett verlottern, hat sich die Stadtverwaltung ein ausgeklügeltes System ausgedacht: Am Public Dock darf man 15 Nächte innerhalb von 40 Tagen bleiben. Vor La Playa (A1) darf man nur am Wochenende ankern, in der Glorietta Bay (A5) nur wochentags für 72 Stunden. Für beide gratis Ankerplätze erhält man nur dreimal im Monat eine Genehmigung. Egal, wo man sich im Hafen von San Diego aufhält, man braucht ein Permit. Dieses erhält man online. Oder man ruft Ralph an, den Hafenmeister mit Sozialarbeiter-Qualitäten. Sind die Möglichkeiten in San Diego ausgeschöpft, schippert man in die zehn Seemeilen entfernte Mission Bay, wo man wieder nur 72 Stunden pro Woche ankern darf. Die immer hilfsbereite„Gang“, die uns nach ein paar Tagen ans Herz gewachsen ist, tut uns leid. Sie sind Getriebene, Ruhelose, die nie durchatmen können und doch auf eine gewisse Weise frei und glücklich.

Unsere Zeit in Kalifornien gleicht einem Wechselbad der Gefühle. Noch nie war Armut in einem „Erste Welt Land“ für uns so sichtbar. Bereits in Crescent City bemerkten wir auf Parkplätzen voll gestopfte PKWs und verrostete Kombis, in denen Menschen wohnten. Die Fenster mit Müllsäcken blickdicht abgehängt. Von den fünf Wochen in Vallejo hat sich vor allem ein Bild in unser Gedächtnis eingebrannt: Unzählige Obdachlose, die im Einkaufswagen ihr weniges Hab und Gut vor sich herschieben. Und die elenden Zeltstädte unter den Autobahnauffahrten um San Francisco, gezimmert aus losen Brettern, Kartons und Plastikplanen. Die Menschen hausen in katastrophal hygienischen Bedingungen, ohne Wasser, ohne Kanalisation, ohne Müllabfuhr. In San Diego gibt es beim Public Dock den Luxus von WC-Anlagen und heißen Duschen. Manchmal kommt man nicht rein, weil jemand darin übernachtet, trotz Zahlencode am Eingang.

Man kann als Tourist natürlich wegschauen und all das einfach ausblenden, man kann sich aber auch fragen, wie es in einem so reichen Land wie den USA zu solch entwürdigenden Zuständen überhaupt kommen kann. Wegschauen kann ich nicht, dazu sind wir schon zu lange auf Reisen. Aktuell leben wir ja angeblich in hundsmiserablen Zeiten für jede Weltoffenheit, jeden Optimismus, jeden Glauben an das Gute und die Wandlungsfähigkeit des Menschen. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass die Obdachlosen nicht das Problem sind, sie sind das Resultat eines globalen Problems, welches nach einer Lösung schreit.

San Diego, Public Dock, Shelter Island

Zusatzinfo zum Hafen von San Diego: Durchreisende Yachten dürfen gratis ein Monat am Cruisers Anchorage A9 (direkt vor der Stadt) bleiben. Einheimische dürfen das nicht. Und natürlich gibt es auch eine Vielzahl an teuren Marinas.

San Diego, Public Dock, Shelter Island