Sorgenfalten

24. August 2019 - An der Westküste von Vancouver Island zerfranst das Land zu Stückwerk. Eine geheimnisvolle Welt

aus Inseln, Fjorden, Felsen, geformt von Wind und Wetter, isoliert und weltabgeschieden. Unbeeindruckt von Zeit und Menschen. Seit Tagen hangeln wir uns von Bucht zu Bucht. Morgens starten wir mit dem ersten Licht. Segel setzen, Segel bergen, Maschine an, Maschine aus. Wir kommen langsam voran. Leichte umlaufende Winde und Flauten lösen sich ab. Oft hängen die Segel nutzlos am Mast, zuweilen ziehen sie uns für einige Zeit.

Wenn es mal kachelt, dann aus Südost, also genau von vorne. So wie vor zwei Tagen, als wir uns im hintersten Winkel des West Clayoquot Sounds, in der Bacchante Bay versteckten. Eine geschützte Bucht für jedes Wetter. Eine grüne Hölle, vollkommen eingekesselt von Felswänden. Nur Wald und Busch ringsum. Der Wetterbericht sprach von „Galewarning“ in unserem Gebiet und bis zu fünf Meter hohen Wellen. In der Nacht pfiffen Böen von den Bergen, Nomad wirbelte wild herum, eine Front zog über uns hinweg. Ein lautes Knarzen und Ächzen und Rucken. Nomads Lied hört sich in jedem Sturm ein wenig anders an. Vielleicht hatte ich vergessen, woher die Falten um meine Augen und auf meiner Stirn kommen. Falten, die entstehen, wenn man besorgt ist. Und ich bin hochtalentiert, mir Sorgen zu machen. Mir fielen auf Anhieb mehrere Gründe ein, warum der Anker nicht halten könnte. Oder ob der Wind vielleicht drehen würde, ob er noch zulegen würde und ob wir genügend Kette gesteckt hatten. Das Wittern von Gefahr. Mein Herz pochte. Da möchte ich gar nichts beschönigen. Das Schwierigste war, mir nichts anmerken zu lassen, was mir natürlich nicht gelang. Wolf kennt mich einfach zu gut. „Wir sind doch schon öfters bei mehr Wind vor Anker gelegen“, meinte er. „35 Knoten hält unsere Lady ohne Probleme aus.“ Über mein Gesicht huschte ein Lächeln. Doch auch Wolf hatte diesen prüfenden Blick, beobachtete wachsam unsere Ankerposition am Plotter, checkte immer wieder den Tiefenmesser. Die Faust einer unerwarteten Böe, eines Gewitters kann jedes Segelboot schnell in Schwierigkeiten bringen. Doch die Götter waren in dieser Nacht auf unserer Seite. Gegen drei Uhr morgens legte sich der Wind und wir uns endlich in die Koje. Situationen wie diese sind ein Mysterium. Sie machen dich klein. Sie machen dich groß. Sie zerren dich auseinander. Sie setzen dich neu zusammen.

Egal wie lange wir nun schon unterwegs sind, wie viele Stürme wir bereits abgewettert haben, stets wird es Sorgen geben. Vor Anker liegen heißt abtreiben können. Auf dem Meer sein heißt ertrinken können. Leben heißt sterben können.