Eingeweht in Herschel Island

13. August – Herschel Island, 69º 34´ Nord + 138º 55´ West. Dort, wo die Welt endet, wollen wir unsere Reise durch die Nordwestpassage fortsetzen.

Vom Winterlager in Inuvik schippern wir zwei Tage lang den Mackenzie River stromabwärts, bis uns das flache Mündungsdelta in die Beaufort See ausspuckt. Nach einem kurzen Stopp in Tuktoyaktuk erreichen wir mit herrlichem Rückenwind Herschel Island. So weit. So gut.

Es ist Juli. Hochsommer in der Arktis. Doch auf Herschel Island, dieser unbewohnten, ehemaligen Walfängerinsel an der kanadischen Yukon-Küste geht die Welt unter. Sturmgeprügelte Blumenwiesen, wolkenverhangener Horizont, durchdringende Nässe, eisige Kälte. Draußen wütet das Eismeer. Beizeiten tragen die schönsten geographischen Namen eine bittere Ironie in sich. Nomad vollführt Bocksprünge vor Anker in der Pauline Cove. In der Pantry hängt der Herd schief und wackelt. Sogar der Pegel im Teehäferl neigt sich. Der Sturm brüllt in erschreckenden Oktaven. Westnordwest acht, in Böen neun Windstärken. Luft- und Wassertemperatur haben sich unisono auf drei Grad eingependelt. Vom Kapitän der Barge Henry Kristofferson erfahren wir den lokalen Wetterbericht übers UKW Radio. "Das sind eher Prophezeiungen, gegen das Wetter sind wir hier machtlos. Es kann so kommen. Aber auch ganz anders." meint er. Es weht ohne Unterlass, auch die heruntergeladenen Grib Files verheißen nichts Gutes. Kein Entkommen in den nächsten Tagen. An Weitersegeln ist nicht zu denken. Noch machen wir uns Mut. Ach was, halb so schlimm. Ein paar schaukelige Tage vor Anker, das kommt in diesen Breiten schon mal vor, das verschmerzt der Törnplan. Wir haben genug Puffer.

Es hat ja auch was für sich, am Ankerplatz eingeweht zu liegen. Man muss sich den Naturgewalten beugen. Abwarten. Dösen. Wolken beobachten. Den Regentropfen zuschauen. In den Nebel starren. In die Koje schlüpfen. Stunden später endet Tag eins im Sturm und Dauerregen nach drei Kaffeerunden, zweimal Tee mit Rum, einer Packung Kekse, zwei Tüten Chips, Krautfleckerln, viel lesen und am Computer rumtippen. Und ständigem Hoffen und Bangen, ob der Anker im Schlamm auch hält.

Am übernächsten Morgen gewinnt das Warten eine neue Dimension. Immer noch Nordwest bis Westnordwest sieben, von den Schauerböen ganz zu schweigen. Auch der Trend für die kommenden Tage fällt düster aus. Geduld und Ergebenheit sind weiterhin gefragt, mir schleichen zweifelnde Gedanken durch den Kopf: Drückt der starke Nordwestwind das Packeis wieder zurück an die Küste? Wird es uns den Weiterweg nach Point Barrow, dem nördlichsten Zipfel Alaskas, versperren? Und immer wieder die Frage: Wann hören der verdammte Wind und der verfluchte Regen endlich auf?

Unablässig umschäumt das Eismeer die Insel Herschel. Seegang peitscht gegen Nomads Rumpf. Derweil der Wind jault, verlangsamt sich das Dasein auf sonderbare Weise. Zeit rieselt dahin wie Sand im Stundenglas. Innerlich richten wir uns auf weitere Tage des Rumhängens in unserer klammen Kajüte ein. Ich verspüre eine leichte Mischung aus Resignation und Enttäuschung. Auf den Grib Files ist die triste Wahrheit wunderbar bunt dargestellt, Windpfeile mit viel zu vielen Häkchen liegen auf dunkelgelben, orangefarbenen und roten Feldern.

Tag vier. Weiterhin ist gut Wind gemeldet. Doch dann eine neue Prognose. Schon bald könnte sich ein kurzes Wetterfenster auftun! Plötzlich kommt Bewegung ins Leben. Und wirklich reißt am späten Nachmittag der Himmel auf, der Wind legt sich wahrhaftig, eine Stunde später erinnert die eben noch aufgewühlte Pauline Cove an einen Ententeich, als sei nie etwas gewesen. Die deutsche Segelyacht Freydis mit Erich und Heide Wilts ankert auf einmal neben uns. Ebenso der winzige, französische Katamaran Malouloutte mit Yvan Bourgnon. Das 21 Fuß fragile Eigendesign erinnert an einen Hobby-Kat. Beide Schiffe sind vor knapp zwei Wochen in Nome, Alaska gestartet und auf dem Weg nach Grönland. Yvan möchte einen neuen Rekord aufstellen: einhand und nonstop durch die Nordwestpassage. Auf Yvans Kat gibt es keine Schlupfkoje, er ist den Elementen voll ausgesetzt. Auf jeden Wing hat er eine Art Halbschale gebaut, in der er schlafen und sich mit einer Plane zudecken kann. Verglichen mit ihm schippern wir in einem Luxusschiff durch die Nordwestpassage.

Zarter Sonnenschein taucht Herschel Island gegen Mitternacht in ein traumhaftes Licht. Vergessen sind die stürmischen Tage, das Warten, das Bangen, das Eingesperrtsein, die Gereiztheit, sogar der nervige Schwell am Ankerplatz. Früh am nächsten Morgen holen wir den Anker aus dem klebrig schwarzen Schlamm, ziehen hinaus aufs offene Meer, befreit vom Stillstand. Neuen Zielen entgegen. Alaska wir kommen! So schnell kann´s gehen.