Papas Geburtstag

05. Februar 2019 - Mein Vater wohnt in Wien, eineinhalb Stunden von Puchberg, wo wir leben, entfernt.

Das Haus im siebenten Bezirk hat hohe Decken, doch leider keinen Aufzug. Von Kindheit an bin ich es gewohnt, die vier Stockwerke zu Fuß hinaufzusteigen. Seit mein Vater seine Wohnung krankheitsbedingt nicht mehr verlassen kann, denke ich im Stiegenhaus oft an die Zeiten, in denen er zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppen hinauflief. Er war immer der erste an unserer Wohnungstür, lange vor meiner Mutter, lange vor mir. In solchen Momenten weht Wehmut durch meine Gedanken.

Einundzwanzig Jahre unter einem Dach, dann zog ich los, hinaus in die weite Welt. Die Eltern blieben zurück. Für eine gefühlte Ewigkeit ging alles gut. Als es nicht mehr gut ging, brach bei mir Hilflosigkeit aus. Ich hatte keine Übung, für meine Eltern zu sorgen. Meine Mutter verstarb leider bereits 2008. Danach ging es mit meinem Vater bergab. Ich half so gut ich konnte. Bei Pflegeanträgen, beim Einbau einer Dusche statt der alten Badewanne, beim Kauf des Krankenbettes, schlussendlich bei der Suche nach 24 Stunden-Pflegerinnen. Die Frauen, die sich jetzt rund um die Uhr um meinen Vater kümmern, wohnen in meinem alten Kinderzimmer. Sie kommen aus Rumänien und wechseln alle vier Wochen. Das, was sie tun, haben sie in den eigenen Familien gelernt, beim Kümmern um die Oma oder den Schwiegervater und in einem Altenpflege Crash-Kurs. Sie haben es geschafft, dass mein Vater heute einen Teller Obst verputzt wie nichts. Ich habe keine Erinnerung daran, ihn jemals beim Essen von Früchten gesehen zu haben. Er trank mehr Wein, als der Doktor empfiehlt, rauchte jahrelang wie ein Schlot, lebte wahrscheinlich ziemlich ungesund. Mein Vater ist im Nachkriegs-Wien aufgewachsen. Er konnte nächtelang tarockieren, er hatte Krisen, aber er ging in jedem Zustand zur Arbeit. Pflichterfüllung, sich nicht hängen lassen, sich durchkämpfen, das war die Botschaft, die er mir auf meinen Lebensweg mitgab.

Als ich ins Wohnzimmer trete, hebt er seinen Kopf aus der gebeugten Haltung im Rollstuhl. Zerbrechlich sieht er aus. Er lächelt mich an, freut sich, begrüßt mich. Seine Stimme ist heute klar, sein Blick völlig unvernebelt. Ich bin hier, um mit ihm auf sein 79. Lebensjahr anzustoßen. Papa hat vergessen, dass er heute Geburtstag feiert. In diesen Momenten erfasst mich Traurigkeit, aber auch eine Welle der Angst. Vor dem Versagen der eigenen Hirnsynapsen. Verrinnende Zeit, Sterblichkeit, solche Themen halt. Aber es ist bekanntlich ungesund, der Urangst mehr Raum zu lassen als nötig.

Mein Vater hat gelernt, mühsam und langwierig, mit den Unerfreulichkeiten der Existenz umzugehen und sich am Positiven zu erfreuen. Es kommt mir vor, dass er das Leben erst jetzt richtig zu schätzen weiß, wenn nicht mehr viel davon übrig ist. Am Anfang hält man alles für selbstverständlich. Glück, Freude, Gesundheit. Wenn nicht heute, dann morgen. Ein großer Irrtum.

Ich habe ihm bequeme Schuhe mitgebracht. Sein größter Wunsch ist, noch einmal die vier Stockwerke runter zu kommen und ins Kaffeehaus zu gehen. Ich glaube, er weiß genau wie ich, dass ihm das nicht mehr gelingen wird. Deshalb kämpfe ich mit ihm, um seine wertvollen letzten Jahre. Alles Gute, Papa!

Blick von zuhause auf den Schneeberg