2. Rund Südamerika

In Patagonien bestimmte der Wind unser Sein, er war das Maß aller Dinge, diktierte die Form der Bäume und lehrte uns Geduld und Respekt.

In schlimmen Stürmen lernten wir unsere Feigheit kennen, durchschritten die Höllen der Angst, zitterten um unser Boot und zum ersten Mal auch um unser Leben. Ist alles überstanden, kann man leicht mutig sein, darüber schreiben und reden. Aber nie die Demut verlieren, sie ist eine gute Begleiterin auf dem Meer. Als uns nach der Rundung des Südzipfels von Amerika der Bootsnachbar beim Anlegen in Puerto Williams fragte, woher wir kämen, fühlten wir uns wie Helden und antworteten lässig: „Kap Hoorn. Und du?“ „Antarktis“. Von wegen Heldentum ...

Mitte März 2003, Herbstbeginn auf der Südhalbkugel. Wir nahmen das längste und wildeste Fjordlabyrinth der Erde in Angriff. 2.000 Seemeilen in der Einsamkeit Südchiles, abseits jeglicher Zivilisation. Wochenlang kämpften wir um jede Meile Richtung Norden, gegen wütende Schneestürme, Hagelschauer und lähmende Flauten. Nässe und Kälte drangen durch Mark und Bein, und unsere nicht isolierte Nomad verwandelte sich in eine Tropfsteinhöhle. Das ständige Bangen, ob Anker und Landleinen halten, strapazierte unsere Nerven. Dazwischen entschädigte uns die Natur mit ungezähmter Schönheit für ihre schlechten Launen. Augenblicke, die sich für immer einbrannten: Nomads Bug, der sich knirschend durch Treibeis zu den Gletscherabbrüchen schiebt, das Schnaufen der Seelöwen, der rotierende Flügelschlag der Dampferenten, der erste Sonnenstrahl nach langer Schlechtwetterperiode. Ein Schatz an Erinnerungen, den uns niemand nehmen kann. Obwohl wir den Wettlauf mit dem Südwinter verloren, erreichten wir allen Widrigkeiten zum Trotz Puerto Montt, das nördliche Ende des Fjordlabyrinths. Die Fahrt um Südamerika hatte uns alles abverlangt, aber auch reich beschenkt. Die härteste Konfrontation mit den Elementen war gleichzeitig die tiefste Begegnung mit dem Leben.

 

Seno Iceberg, Patagonien, Chile, Mai 2003